Ein Volk auf Droge

 

20 Jahre Glückspille Prozac – ein gelungenes oder zweifelhaftes Jubiläum?

 

Frankfurt am Main (Weltexpress) - Am 15. Januar brachte die Frankfurter Rundschau (FR) unter der Überschrift „Ein Volk auf Droge“: „Vor zwanzig Jahren kam das Antidepressivum Prozac in den USA auf den Markt. Millionen Amerikaner haben sich an ein Leben mit der ‚Wunderpille’ gewöhnt. Doch inzwischen kippt die Stimmung“. Prozac wurde zum Prototyp und in den USA zum Synonym einer neuen Generation von Psychopillen, den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), angeblich frei von Nebenwirkungen, einem neuen Versprechen des Glücks für Depressive und Angstkranke. Die alten wesentlich billigeren Antidepressiva (Tetracyklika) der ersten Generation mit mehr Nebenwirkungen waren ausgemustert. In Deutschland ist Prozac als Fluctin nicht so sehr verbreitet, dafür machten Analogika ihren Siegeszug.

 

Die FR führte beispielhaft den Fall eines Jugendlichen an, der unter bizarren Ängsten und Zwängen litt. Er fürchtete frische Farben, weil die Dämpfe sein Gehirn zerstörten, faßte wegen der Angst vor Keimen auf dem Gang zur Toilette die Türklinke nur mit dem Taschentuch an, wagte sich tagelang nicht aus dem Bett, weil der Gedanke, er habe Krebs, ihn nicht mehr los ließ. Nach der Einnahme von Prozac verspürte er eine Wesensveränderung, sein Leben besserte sich dramatisch, seine Ängste ließen nach, er konnte sich wieder konzentrieren und heute ist er ein erfolgreicher Journalist. Der schüchterne Junge traute sich was. Das wäre ohne Prozac - seiner Meinung nach – vielleicht nicht möglich gewesen. Er schätzt zudem, die Hälfte seiner Freunde habe das Mittel schon genommen.

 

Nach der Frankfurter Rundschau wurden Prozac und Analogpräparate bis 2002 rund 67,5 Millionen Patienten verschrieben, davon allein 2002 7,5 Millionen Langzeitpatienten. Vor allem in den 90er Jahren kam es zu einer regelrechten Hype. Es war als Lifestyle mehr als ein Medikament, ein Versprechen. Künstler bekannten sich dazu, führten ihre Erfolge auf Prozac zurück, der Rapper Vanilla Ice dichtete einen Song. Der Psychiatrieprofessor Peter Kramer schrieb in einem Buch über Prozac, es ermögliche jedermann, nicht nur Depressiven, sich besser als gut zu fühlen. Nach einer langen Euphoriephase waren jedoch die Nebenwirkungen nicht zu übersehen. Abhängigkeiten traten auf, so daß das Präparat nicht mehr wegelassen werden konnte. Ein Abhängiger beschrieb sich selber, er sehe wie ein Junkie aus. Kritiker warnen vor den schlimmen Nebenwirkungen wie Impotenz, Alpträumen, sogar Depressionen mit Selbstmordgedanken. Manche bezweifeln sogar jegliche Wirkung über den Placeboeffekt hinaus. Die Symptome, die das Präparat bekämpfen sollte, traten anscheinend durch es erst auf. Die Hype schlug in das Gegenteil um und schoß sogar über das Ziel hinaus.

 

Der Umschwung hängt mit den zu vielen Krankheiten und ihren Bekämpfungen gehörenden Spaltungen zusammen – zuerst ist alles toll, dann wird alles verteufelt. Ähnliches erleben wir beim Spitzensport, der den Gesetzen der Spaltung wie bei einem Schwerstkranken gehorcht. Bei Erfolgen werden die Idole gefeiert, beim geringsten Schatten wie Doping werden sie verteufelt. Eine differenziertere Bewertung ist deshalb notwendig.

 

Prozac ist es zu verdanken, daß die biologisch ausgerichtete Psychiatrie und Medizin im Schlepptau der Pharmaindustrie sogar ihre Einstellung über die Entstehungsursache von Depressionen änderte, früher ein Gendefekt, heute eine Transmitterstoffwechselstörung. Da SSRI und eine weitere Gruppe, die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), auf den Transmitterstoffwechsel, die Botenstoffe der biochemischen Informationsvermittlung zwischen den Zellen, selektiv – die Tricyklika weniger selektiv - einwirkten, sei die Ursache eine anlagebedingte Stoffwechselstörung. Das ist Stand des Universitätslehrstoffs, der für die Kranken eine ungeheure Entlastung von ihren zur Depression gehörenden Schuldgefühlen bedeutet. Sie sind nicht mehr selbst schuld an ihrer Erkrankung, sind befreit, und haben eine organisch bedingte Stoffwechselstörung. Das ist ein neuer Trick auf der Rutsche weg von den diskriminierenden psychischen hin zu den gesellschaftliche eher akzeptierten organischen Krankheiten. Noch immer nicht so verbreitet ist unser Allgemeinwissen, daß auch psychische und psychosomatische Erkrankungen ohne nachweisbaren organischen Befund ihre organische Grundlage in den Nervenzellen und deren Netzwerk und den biophysischen Informationsvermittlern innerhalb des Körpers haben, insofern auch eine körperliche Erkrankung sind, nur nicht auf der Ebene der üblichen medizinischen Untersuchungen.

 

Vor ein paar Jahren gab es eine Studie, in der ein Querschnitt der Bevölkerung nach ihrer Meinung über die Ursachen der Depression befragt wurde. 85 Prozent sahen die Ursache in der Persönlichkeit liegend– und diese wird nun mal in der Erziehung geprägt – und den Umweltbeziehungen. Im Nachsatz wurde darauf hingewiesen, daß dies ganz im Gegensatz zur medizinischen Wissenschaft stehe, die die Ursache in einer Transmitterstoffwechselstörung sieht. Wer hat nun recht – der Normalbürger oder die Wissenschaft? Diese Ursachenfrage kann man gut mit der Informationsvermittlung in einem Telefongespräch vergleichen. Wenn der Hörer einen Wut-, Angst- oder depressiven Anfall bekommt, liegt die Ursache nicht an der Aussage des Sprechers oder an der Auffassung des Hörers (Depressive und Angstkranke stellen für sich sehr schnell tief kränkende Auffassungen her), sondern eventuell am Telefondraht, vergleichsweise den Nerven oder an der Luftübertragung von der Membran des Telefonhörers zur Ohrmuschel. Der Beweis könnte sein, daß ein Kissen, vergleichsweise die Antidepressiva, den Wutanfall verhindert.

 

Der oben angeführte Patient kam durch die Dauereinnahme nie zu der Erfahrung, daß seine Ängste und Zwänge möglicherweise eine pubertäre Durchgangslebensphase gewesen waren und von selbst nachgelassen hätten. Viele Symptome treten in Schwellensituationen auf und verlieren sich bei späterem gewachsenen Selbstvertrauen. Er schränkte die Wirkung des Medikaments mit seinem ‚vielleicht’ ja schon selbst ein. Auch hatte er nicht das Erfolgserlebnis und den Stolz, selber mit seinen Störungen fertig zu werden oder bei fundierter menschlicher Hilfe sich mit eigenen Kräften am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Er macht also nicht die positive Erfahrung menschlicher Hilfe. Das muß keine therapeutische Hilfe sein, sondern können durchaus Aussagen anderer auf gleicher Ebene sein, beispielsweise die erstaunte Feststellung „Was? Das macht dir so viel Angst, mir überhaupt nicht!“. Durch eine kleine Bemerkung kann so der Angstkranke zu einer neuen Realität kommen.

 

Der Übergang von Depression und Angstkrankheit ist fließend. Depressive leiden unter Ängsten, und langjährige Ängste können in Depressionen münden. Außerdem gehören zu den Ängsten auch die Ängste vor dem Medikament, vor allem vor den Nebenwirkungen, besonders, wenn der Beipackzettel mit den möglichen Nebenwirkungen gelesen wird, die aus rechtlichen Gründen angeführt werden müssen. Angstkranke glauben so sehr an die Realität der Nebenwirkungen, daß manche diese schon spüren, bevor sie überhaupt vorhanden sein können. Die Erfahrung der Angstprägung in der Kindheit kann man wie eine Vergiftung verstehen, so daß Angst vor Giften besteht. Deswegen sind Medikamente bei Ängsten ein zweischneidiges Schwert. Darüber hinaus bestätigen jegliche Handlungen als Folge und zur Kontrolle der Ängste wie die Medikamenteneinnahme diese Ängste, weil sich der Kranke, meist unbewußt, selbst sagt „Das muß ja eine schlimme Krankheit sein, weswegen ich (so starke) Medikamente nehmen muß!“ Sie können also die Angst machen, vor der sie schützen sollten. Dann kann also ein an sich wirkungsvolles Medikament auf einmal wirkungslos werden. Wie oben erwähnt, haben Depressive und Angstkranke in sich entwertende Selbst- und Lebensauffassungen. Deswegen erleben sie alleine schon ihre Krankheit, zusätzlich die Medikamenteneinnahme für sich als Demütigung und Peinlichkeit. So wollen alle angeführten Prozac-Patienten im Artikel der Frankfurter Rundschau nicht namentlich erwähnt werden. Die Verschreibung und Einnahme von Arzneien ist ein derartig komplexer Vorgang und wird von vielfältigen Faktoren beeinflusst, von denen hier nur einige angeführt werden können.

 

Oft ist schwer zu unterscheiden, was tatsächliche und krankheitsbedingte - aus der Eigendynamik der Krankheit selbst heraus - Nebenwirkungen sind. So kann alleine schon die Angst wie eine selffulfilling prophecy diese Nebenwirkungen hervorrufen. Depressive, vor allem Angstkranke sind in vielen Bereichen neben ihrer Ängstlichkeit und Schüchternheit teils recht militant in der Verteidigung ihrer Standpunkte und würden gerichtlich diese Nebenwirkungen auf das Medikament und nicht auf ihre Wahrnehmung als Einbildung zurückführen. Das hat die Pharmaindustrie zu fürchten und antwortet zur rechtlichen Absicherung mit einer langen Latte möglicher Nebenwirkungen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Schließlich ist es das Wesen von Angstkrankheiten, daß von harten Realitäten ausgegangen wird - sonst bräuchte man ja keine Angst haben zu müssen - und nicht von persönlichen Wahrnehmungen und Sichtweisen, die andere nicht teilen müssen, so daß manches tatsächlich eingebildet sein kann.

 

Wegen dieser Ängste und der Demütigung, außerdem dem Wunsch auf bessere Weise als auf diesem riskanten und selbstdemütigenden Weg mit ihren Problemen fertig zu werden, lehnen viele Patienten Medikamente ab, lassen sich keine verschreiben oder nehmen die verschriebenen nur kurzfristig oder überhaupt nicht. Nur wenig wird publik gemacht, daß überhaupt nur die Hälfte der verschriebenen Arzneien von den Patienten eingenommen werden, bei psychischen Erkrankungen vermutlich noch weniger. Darüber zu diskutieren liegt nicht im Interesse der das Gesundheitswesen dominierenden Pharmaindustrie und würde ihre Produkte zu sehr in Frage stellen, vor allem bei psychisch Kranken, die sowieso schon soviel Angst haben. Schließlich ist diese Pharmaindustrie ja gewinnorientiert und lebt mit vielen Verschreibungen und Einnahmen besser.

 

Der Verzicht auf Medikamente kann also eine heilsame Wirkung erzielen. Aber trotzdem können Antidepressiva nützlich sein, z.B. vorübergehend in schwierigen Lebensphasen. Daß sie keine Heilsbringer sind, wird wohl allzu deutlich. Manchen Angstkranken und Depressiven ist auch nicht anders zu helfen oder auch mit Medikamenten nicht zu helfen. Da Medikamente bei jedem anders wirken – das hängt alleine schon davon ab, in welcher Weise der Arzt diese verabreicht, seine Überzeugung, der Arzt als Droge, der Glaube des Patienten selbst und der Glaube, also die Einflußnahme des Umfeldes, diese Trias des suggestiven Einflusses oder Placeboeffektes - , muß die richtige Medikation häufig erst ausprobiert werden. Schon das lehnen manche Angstkranke mit den Worten ab „Ich bin doch kein Versuchskaninchen!“. Die neue Generation der Antidepressive soll zwar weniger Nebenwirkungen besitzen, aber aufgrund der individuellen Wirkung können die wesentlich billigeren der ersten Generation durchaus sinnvoll sein. Vielleicht hat es das Marketing der Pharmaindustrie bisher geschafft, die Nebenwirkungen herunter zu spielen, während sie es bei den Tranquilizern nicht geschafft hat, den Ruf der Abhängigkeit zu verhindern. Trotzdem sind diese Verkaufsrenner.

 

Die kulturell und gesellschaftlich umsatzstärkste Hauptdepressions- und Angstbekämpfung findet sowieso außerhalb der ärztlichen Sprechstunde statt. Die verbreiteste angst- und spannungsauflösende – es ist ja nicht nur die Angstspannung, sondern hinter allen Ängsten steckt auch Wut, oft die Angst vor der eigenen Wut - und stimmungsaufhellende legale Droge auch im Sinne des Lifestyles ist der Alkohol. Der Arzt wird höchstens wegen der Folgen aufgesucht. Ähnliche noch stärkere Effekte mit noch mehr Neben- und Nachwirkungen haben illegale Drogen.

 

Wenn der Kranke nicht selbst, oft zufällig durch weitere Begebenheiten, seine Krankheit in den Griff bekommt, Medikamente nicht helfen oder er sie ablehnt, er zu sehr die Vergiftungen fürchtet und er meint, Hilfe könnte ihm nützlich sein, besteht noch die Möglichkeit der Psychotherapie. Dazu muß er aber die positive Erfahrung von menschlicher Hilfe gemacht haben – viele Depressive und Angstkranke sehen nur die Fakten, vor allem, wenn sich die Ängste überwiegend körperlich zeigen, und haben keinerlei Erfahrung und dann Vorstellungen, daß Gespräche ihnen helfen können. Die meisten Symptome und Krankheiten haben einen Doppelcharakter. Sie sind nicht nur ein Übel, sondern bieten auch Entwicklungschancen, wenn sich der Kranke etwa sagen kann „Wenn diese Überlastungen zur Krankheit führen, dann muß ich mich entlasten und anders damit umgehen“. Dadurch kann Hoffnung und Erleichterung entstehen.

 

Zum Schluß wollen wir die psychotherapeutische Alternative zu den Drogen kurz skizzieren. Es gibt verschiedene Wege, einmal die Betrachtung der Kognitionen, der Wahrnehmung und des Verhaltens und die Einflussnahme, zum anderen der tiefenpsychologische bzw. analytische Weg, bei dem der Kranke sich selbst zu betrachten sucht, seine traumatisierenden Entwicklungsbedingungen mit den Folgen für sein oft unbewußtes Selbst- und Weltbild, seine Reaktionsweisen und Alternativen kennen lernt. Diese Alternativen müssen auf der Basis der emotionalen Erfahrung wahrgenommen werden, sonst nützen sie nicht. Das Problem bei Angstkranken ist, daß sie bei einer Selbstreflexion zuerst nur ihre Angst sehen, dann schon zur Vermeidungshaltung wie zu Drogen neigen, und nicht sehen, daß sie diese Bedrohungen so und in dieser Weise sehen, manches auch anders zu sehen ist. Beispielsweise fürchten Angstkranke ihre narzißtische Entwertung in Peinlichkeit, Schande Verachtung und Schuld, wenn sie nur eine Schwäche haben oder einen Fehler machen. Was tun sie nicht alles, um stark und fehlerlos dazustehen! Dieser Kampf macht sie krank. Dabei sind Fehler und Schwächen menschlich und der Mensch das höchste Wesen auf Erden. Eigentlich handelt der Mensch bei allen bewußten und unbewußten, unsichtbaren Motiven sowieso nach bestem Wissen; leider ist dieses Wissen, was den Menschen angeht, stückhaft, sogar falsch, meist dysfunktional. Eine Wissenserweiterung kann helfen.

 

Autor: Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 24.01. 2008

Foto: © Weltexpress

Verwertung: Weltexpress

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 24.01. 2008